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Die Zeiten, in denen eine neue Form geboren wird, sind äußerst rar in der Menschheitsgeschichte. Es muß viel zusammenkommen, damit so etwas gelingen kann. Große Form zeichnet sich dadurch aus, daß sie imstande ist, die Epoche, der sie entstammt, zu überleben und durch alle Brüche und Umwälzungen der Geschichte weiterzuwandern. Die griechische Säule mit ihren dorischen, ionischen und korinthischen Kapitellen ist eine solches Formgeschöpf, ebenso die griechische Tragödie mit ihrer Erfindung des Dialogs, die noch in der dümmsten soap-opera weiterlebt. Die Griechen empfanden Tradition an sich schon als Kostbarkeit; sie war es, die Legitimität schuf. Die Überlieferung stand bei ihnen deshalb unter kollektivem Schutz; die Verletzung einer Tradition wurde “Tyrannis” genannt - Tyrannei war der Gewaltakt, der eine überlieferte Form verletzte.
Eine solche die Epochengrenzen mühelos überwindende Form war auch die heilige Messe der römischen Kirche in ihren organisch gewachsenen, zuletzt auf dem Konzil von Trient verbindlich zusammengefaßten Teilen - dort wurde das Meßbuch des römischen Papstes, das seit der Spätantike niemals häretischen Eingriffen ausgesetzt gewesen war, zum allgemeinen Gebrauch der katholischen Christenheit vorgeschrieben. Wenn man sich den Lauf der europäischen Geschichte vor Augen führt, gibt es nichts Erstaunlicheres als dieses Meßbuch, das die gewaltigsten Katastrophen unverändert überstanden hatte. Die Kraft zu solcher Lebensfähigkeit zog der Ritus ohne Zweifel aus seiner Herkunft. Er stammte aus apostolischer Zeit; ihre Formensprache stand in engster Verbindung mit den Jahrzehnten, in denen das Christentum gestiftet wurde und die das Evangelium “die Fülle der Zeit” nennt. Es begann in ihr etwas Neues, der größte Einschnitt in die Welt. Geschichte war mit diesem Neuen verbunden. Und so war dies Neue denn auch befähigt, Gestalt anzunehmen - dies Neue bestand ja vor allem in einem Gestalt-Werden, als nämlich der Schöpfergott die Gestalt seiner Geschöpfe annahm. Das ist der Glaube des Christentums: daß der Geist Materie, Körper, sogar toter Körper wird, und das heißt, daß er Form annimmt. Und diese Form soll dann hinfort vom Geist nicht mehr zu trennen sein; der Auferstandene und zum Vater heimkehrende Erlöser behält die Wunden seines Foltertodes in Ewigkeit. Die Eigenschaften der Körperlichkeit nehmen eine unendliche Bedeutung an. So wurde der Ritus des Christentums zur unaufhörlichen Wiederholung der Inkarnation - und wie es am menschlichen Körper kein Glied gibt, das ohne Schaden oder Beeinträchtigung entfernt werden könnte, formulierte das Konzil von Trient in Bezug auf die Liturgie der Kirche, daß keines ihrer Teile unwichtig, unwesentlich oder ohne Schaden zu vernachlässigen sei.
Alles ist schon einmal dagewesen, heißt es - aber so scheint es denn doch nicht zu sein: die industrielle Revolution, die Wissenschaft als Religionsersatz und das Phänomen der wunderbaren und grenzenlosen Geldvermehrung ohne eine ebensolche Vermehrung der materiellen Äquivalente hat eine neuartige Mentalität hervorgebracht, der es in wachsendem Maß schwerfällt, die Verschmelzung von Geist und Materie, die Geisthaltigkeit der Materie, die für die Jahrtausende der vorindustriellen Welt eine Selbstverständlichkeit war, überhaupt noch wahrzunehmen. Die Mächte, die unser Leben bestimmen, sind unanschaulich geworden - keine davon hat eine ästhetische Repräsentation gefunden. In einer bildüberfluteten Zeit vermögen sie nicht mehr, Bild zu werden, und haben dadurch etwas Ungreifbares, ja geradezu Dämonisches bekommen. Mit der Unfähigkeit zum Bild, die im XX. Jahrhundert sogar das Portrait des einzelnen Menschen zum Problem hat werden lassen, ist unseren Zeitgenossen aber auch die Erfahrung der Wirklichkeit geschwunden, die immer erst in ihrer sinnhaltigen Überhöhung faßbar wird.
In einer solchen Epoche, die noch gar nicht richtig verstanden ist und in ihrer Unfähigkeit zum Bild durch einen lärmenden Kunstmarkt unaufhörlich getäuscht wird, mußte jedes Experiment des Eingreifens in den gewachsenen Ritus lebensgefährlich werden. Unnötig war dieser Eingriff in jedem Fall - denn “zeitgemäß” war der aus der Spätantike des Mittelmeerraumes stammende Ritus weder im europäischen Mittelalter oder Barock, noch in den außereuropäischen Missionsländern gewesen - die südamerikanischen Indianer und westafrikanischen Schwarzen mußten ihn womöglich noch fremdartiger finden - und doch ist er der Ritus der großen missionarischen Erfolge gewesen. Als die Bewohner Galliens, Englands und Deutschlands Katholiken wurden, verstanden sie kein Latein und waren Analphabeten - die Frage des richtigen Verständnisses des Kultes war vom wortwörtlichen Mitvollzug eben ganz unabhängig. Die Bäuerin, die während der Messe den Rosenkranz betete, aber wußte, daß sie sich in der Gegenwart des Opfers Christi befand, verstand die Messe besser, als unsere Zeitgenossen, die jedes Wort verstehen, denen aber dies Wissen abhanden gekommen ist, weil die Form des Ritus es nicht mehr zum Ausdruck gelangen läßt. Dazu fiel die Neugestaltung des Ritus auch noch in die verhängnisvollen Jahre um 1968, die Jahre der chinesischen Kulturrevolution und eines weltweiten Aufstandes gegen Tradition und Autorität nach Abschluß des II. Vatikanischen Konzils. Das Konzil hatte die überlieferte Liturgie noch im Großen und Ganzen bestätigt und die Rolle der Kultsprache und des Gregorianischen Chorals hervorgehoben - nun schufen Liturgiefachleute am grünen Tisch im Auftrag von Paul VI. ein neues Missale, das von den Vorgaben der Konzilsväter nicht gedeckt war und das zugleich einen Dammbruch bewirkte: binnen kurzem war der überlieferte Ritus bis zur Unkenntlichkeit verändert. Dies war ein Bruch mit der Tradition, wie ihn die Kirche in ihrer langen Geschichte noch nie erlebt hatte - wenn man von der fälschlich “Reformation” genannten protestantischen Revolution einmal absieht, mit der die nachkonziliäre Liturgiereform tatsächlich viel gemein hat.
Es wäre dieser Bruch tatsächlich unheilbar gewesen, wenn nicht ein einziger Bischof, der am Konzil teilgenommen und der die Liturgiekonstitution in dem guten Glauben unterzeichnet hatte, sie werde wirklich der Maßstab einer “behutsamen” Durchsicht der heiligen Bücher sein, zu diesem Reformwerk ein intransigentes “Nein” gesprochen hätte. Dem französisch Missions-Erzbischof Marcel Lefebvre und seiner Priesterbruderschaft, der er den heiligen Meßreformer Papst Pius X. als Patron gegeben hatte, ist es ganz allein zu verdanken, daß der gefährlich dünn gewordene Faden der Tradition nicht abgerissen ist. Es kam zu einem der spektakulären Widersprüche, an denen die Geschichte der Kirche reich ist: das Sakrament, das den Gehorsam Jesu gegenüber dem Willen des Vaters zum Gegenstand hat, wurde durch den Ungehorsam gegen den Befehl des Papstes gerettet. Auch wer diesen Ungehorsam unverzeihlich findet, muß einräumen, daß ohne ihn Papst Benedikt XVI. für seine Gesetzgebungsakte, das berühmte Motu proprio und die Ausführungsbestimmungen “Summorum pontificum” keinerlei Materie mehr vorgefunden hätte - der überlieferte Ritus wäre, nachdem seine rigorose Unterbindung schon jahrzehntelang wirksam gewesen war, bereits spurlos verschwunden gewesen. Denn seine Unterdrückung wurde mit einer letzten Aufwallung von zentralistischer Gewalt, zu der die Kirche heute überhaupt nicht mehr imstande wäre buchstäblich gnadenlos durchgezogen, Proteste der Gläubigen und Priester weggewischt und verächtlich behandelt - die katholische Kirche hat im XX. Jahrhundert kein häßlicheres Gesicht gezeigt als bei der Verfolgung ihres bis dahin ihre Gestalt bestimmenden Ritus. Und das Verbot des Ritus ging mit einem Bildersturm in unzähligen Kirchen einher, mit der Verschandelung alter Gotteshäuser, dem Abriß von Altären, dem Sturz heiliger Statuen, der Verschleuderung kostbarer Paramente.
Wer sich aber mit dem Ungehorsam des Erzbischofs nicht abfinden kann, weil ihm die Vorstellung mehr als unheimlich ist, daß aus einer schweren Sünde für die Kirche unmittelbar etwas Rettendes erwachsen sein sollte, der darf sich inzwischen damit trösten, daß der bewußte Ungehorsam gar keiner war: Papst Benedikt XVI. hat die Größe besessen, in seinem Gesetzgebungsakt zur Wiedereingliederung des überlieferten Ritus in die Liturgie der Kirche festzustellen, daß der alte Ritus niemals verboten war, weil er niemals verboten werden konnte - kein Papst und kein Konzil besitzen die Vollmacht, einen derart tief in der Geschichte der Kirche verwurzelten Ritus aufzuheben, abzuschaffen oder zu verbieten. Nicht nur die liberalen und protestantisierenden Feinde des überlieferten Ritus, auch seine Verfechter, die in einem jahrzehntelangen Kampf schon dabei waren, die Hoffnung aufzugeben, konnten sich vor Staunen nicht fassen. Alle hatten sie die rigiden Verbote zahlreicher Bischöfe noch im Ohr, die Exkommunikationsdrohungen und Verdächtigungen, und man wagte kaum, den Schluß zu ziehen, daß mit der Richtigstellung des Papstes Benedikt auch der selige Papst Paul VI. offenbar im Irrtum gewesen war, als er seinem festen Willen Ausdruck gegeben hatte, der überlieferte Ritus solle nirgendwo auf der Welt mehr gefeiert werden.
Benedikt XVI. tat noch mehr: er erklärte, es gebe nur einen einzigen römischen Ritus, der zwei Gestalten besitze, die ordentliche und die außerordentliche, womit der überlieferte Ritus bezeichnet wurde. Damit wurde die tradierte Form zum Maßstab für die neu geschaffene Form gemacht - wenn die beiden Formen, so wie der Papst es wünschte, sich gegenseitig befruchten und bereichern sollten, dann konnte es naturgemäß ausschließlich darum gehen, daß der neue Ritus mit seinen vielen Gestaltungsmöglichkeiten sich dem alten annähern müsse - die feste Form des überlieferten Ritus bietet, wie man weiß, keinerlei Spielraum für Eingriffe welcher Art auch immer. Nach der das Motu proprio bestimmenden Auffassung ist der Zelebrant des neuen Ritus sogar dazu verpflichtet, die Messe in dem beiden Ritus-Formen gemeinsamen Geist zu feiern, wenn er die Behauptung, es handele sich um einen einzigen Ritus in zwei Gestalten, nicht Lügen strafen will.
Wenn Papst Benedikt von einer wechselseitigen Beeinflussung und Bereicherung beider Ritusformen sprach, tat er das freilich mit einem Hintergedanken. Er glaubte auf dem Gebiet der Liturgie an die organische Entwicklung; die mit dem Revolutionsjahr 1968 zusammengefallene und mit ihm weltgeschichtlich verbundene Liturgierevolution verurteilte er gerade deshalb, weil sie solcher organischer Weiterentwicklung und Entfaltung widersprach. Er verstand es als einen ernsten Verstoß gegen den Geist der Kirche, in den kollektiven Besitz aller vorangegangenen Generationen durch ein Machtwort des Papstes einzugreifen. Er sah es also nicht nur als praktische Unmöglichkeit an, den neuen Ritus mit seinen vielen schweren Mängeln nach Jahrzehnten des Gebrauchs in der ganzen Welt einfach wieder zu verbieten, sondern hätte einen solchen Akt, auch wenn er ihm Chancen gegeben hätte, ganz grundsätzlich als eine Fortsetzung des von seinem Vorgänger eingeschlagenen falschen Wegs empfunden. Der richtige Weg würde, so hoffte er, in einem vom Papst ermutigten und sanft geförderten allmählichen Zusammenwachsen der alten und der neuen Form bestehen. Diese Hoffnung hing mit dem von ihm schon als Kardinal ins Spiel gebrachten Begriff einer “Reform der Reform” zusammen.
Das Ziel einer solchen “Reform der Reform” sollte im Grunde nichts anderes sein als die Liturgie, die die Konzilsväter im Auge hatten - sie wollten Ausnahmen vom Gebrauch der lateinischen Liturgiesprache gestatten, wo es dem Heil der Seelen förderlich sein könnte, wobei sie die große Bedeutung das Latein als Sprache der Kirche betonten; sie stellten sich eine gewisse Straffung des Ritus vor - den Wegfall des Stufengebets und des Schlußevangeliums, was höchst bedauerliche Verluste ohne nennenswerte Vorteile gewesen wären, die aber die Essenz der Liturgie nicht beschädigt hätten. Sie ließen selbstverständlich das uralte Offertorium unangetastet. Diese Gebete erschließen den Charakter der Liturgie am deutlichsten und sind deshalb unverzichtbar. Besonders ist unter ihnen die Epiklese hervorzuheben, die Anrufung des Heiligen Geistes, der die Opfergaben wandeln soll; nach altkirchlicher Tradition, die die oströmische Welt einschließt, ist dies Gebet für die Wandlung entscheidend. Ebenso fraglos galt den Konzilsvätern der römische Kanon als unbedingt verpflichtend. Die Zelebration der Liturgie nach Osten zum wiederkommenden Herrn hin war für die Konzilsväter in ihrer großen Mehrheit gleichfalls unumstritten - sogar die Autoren der paulinischen Meßreform, die den Willen der Konzilsväter beiseite fegten, hatte nicht daran zu rühren gewagt - es war erst der Geist der 68er Revolution, der die Anbetung Gottes aus dem Zentrum der katholischen Liturgie rückte und das klerikalistisch-belehrende Gegenüber von Priester und Gemeinde in den Kirchen installierte. Auch in der Kirchenmusik wünschten die Konzilsväter keine Änderung der Überlieferung. Geradezu ungläubig liest man diese Passagen der Liturgiekonstitution, die gerade von den begeisterten Verfechtern der nachkonziliaren Entwicklung behandelt werden, als stehe darin das Gegenteil. So muß man denn sagen, daß der Plan einer “Reform der Reform” keineswegs beabsichtige, “hinter das Konzil” zurückgehen zu wollen, wie die Feinde von Papst Benedikt das behaupteten - diese “Reform der Reform” hatte kein anderes Ziel, als das Programm des Konzils zu verwirklichen.
Sehr behutsam ging Papst Benedikt vor; er warb in allgemeinen Ausführungen für sein Vorhaben. Noch als Kardinal ließ er wissen, daß die Zelebration zur Gemeinde hin ein schwerer Irrtum sei; er bestätigte die wissenschaftliche Arbeit des Theologen Klaus Gamber, der den Nachweis geführt hatte, daß die Kirche niemals in ihrer Geschichte, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, zur Gemeinde hin zelebriert habe und plädierte dafür, die Priester sollten, wenn ihnen schon das Umdrehen der Altäre nicht möglich sei, wenigstens ein großes Kreuz auf den Altar stellen, das sie bei ihren Gebeten anblicken könnten. Er kämpfte, mit wechselndem Erfolg, für die Korrektur der Einsetzungsworte, die mit Einführung der Volkssprache vielerorts falsch übersetzt worden waren: in unerlaubter Heilsgewißheit und gegen den Wortlaut des Griechischen Textes spricht man jetzt an den Altären davon, Christus habe den Kelch seines Blutes “für alle” hingegeben statt richtig “für viele”. In Deutschland, dem Land der Reformation, wo ihm der heftigste Widerstand geleistet wurde, ist die falsche Übersetzung bis heute nicht korrigiert.
Diesen Versuchen wären gewiß weitere gefolgt, die sämtlich mit geringen Erfolgschancen hätten rechnen dürfen. Eine der wichtigsten Folgen des II. Vatikanischen Konzils ist die Zerstörung der Ordnungsstrukturen der Kirche durch die Einführung der dem klassischen Kirchenrecht völlig fremden nationalen Bischofskonferenzen, die die unmittelbare Beziehung jedes einzelnen Bischofs zum Papst beendet hat; jedes vatikanische Eingreifen in lokale Mißbräuche muß an der Betonmauer der jeweiligen Bischofskonferenz zerschellen. Man hat es jüngst erst wieder gesehen, als der Präfekt der Ritenkongregation dazu aufforderte, allgemein wieder zur Zelebration ad orientem zurückzukehren - nach einem Aufschrei der Empörung vornehmlich englischer Kleriker mußte das allzu berechtigte Anliegen sofort wieder fallengelassen werden.
Aber Papst Benedikt selbst hat keine Versuche mehr in dieser Richtung unternommen. Man darf wohl sagen, daß er dieses sein Herzensanliegen, die “Reform der Reform”, aufgab, als er sich zu dem in Kern immer noch rätselhaften Entschluß durchrang, als erster Papst aus Gründen seines persönlichen Befindens vom Amt des Bischofs von Rom zurückzutreten. Er mußte wissen, daß es nur wenige Kräfte in der obersten Hierarchie gab, die dem Anliegen einer “Reform der Reform” ebenso überzeugt gefolgt wären wie er - mit dem Rückzug gab er dieses Projekt einfach auf, und er durfte denn auch erleben, daß sein Nachfolger sich nicht scheute, den Gedanken einer “Reform der Reform” ausdrücklich zu verwerfen.
So bleibt denn das größte Werk Papst Benedikts, zumindest in liturgischer Hinsicht, das Motu proprio und die Instruktion Summorum Pontificum, mit denen er der überlieferten Liturgie einen kirchenrechtlich abgesicherten Platz im Leben der Kirche einräumte. Wer glaubt, das sei nicht viel, der erinnert sich nicht der langen Jahrzehnte, die diesen Rechtsakten vorangingen - das war mit den Worten des deutschen Dichters Friedrich Hölderlin wahrhaft eine “bleierne Zeit”. Niemand, der ein klares Bild von der Lage der gegenwärtigen Kirche und der Weltstunde überhaupt hat, konnte hoffen, daß ein einziger Papst während eines einzigen Pontifikats die tief in der geistfeindlichen Mentalität verwurzelte liturgische Fehlentwicklung würde korrigieren können. Aber jeder, der sich um ein Fortleben des überlieferten Kultes bemühte, kannte die unendlichen Hindernisse, die einem da in den Weg gelegt wurden. Es ist nicht so, daß die Hindernisse überall verschwunden wären, aber es ist einfach unrealistisch, den großen Unterschied vor und nach “Summorum Pontificum” nicht zu registrieren. Die Orte, an denen die überlieferte Messe heute zelebriert wird, haben sich vervielfacht. Die regulären Kirchen, in denen der Kult jetzt gefeiert werden kann, lassen manchen die Keller und Hinterhöfe vergessen, in denen lange Zeit zelebriert werden mußte. Die Zahl der jungen Priester mit einer Liebe zum alten Ritus, hat beträchtlich zugenommen, ebenso die Zahl der Diözesanpriester, die begonnen hat, ihn zu erlernen; desgleichen ist die Zahl der Bischöfe gewachsen, die bereit sind, im alten Ritus die Firmung und die Priesterweihe zu spenden.
Wer das Pech hat, in einem Land zu leben, wo von dieser Entwicklung nichts zu spüren ist - und solche Regionen gibt es wahrlich genug -, der mag angesichts solcher Fakten wenig Trost empfinden. Es gilt eben, überall in der Welt von einer in der katholischen Kirche weitverbreiteten Haltung Abschied zu nehmen. Gemeint ist eine Passivität der Gläubigen, die den Gottesdienst und die religiöse Erziehung beim Klerus in guten Händen weiß und sich also nicht darum kümmern zu müssen glaubt. Die große liturgische Krise nach dem II. Vatikanum, die vor allem mit einer Glaubens- und Autoritätskrise einhergeht, hat dieser Entlastung der Gläubigen ein Ende bereitet. Die Bewegung für den alten Ritus ist zu großen Teilen auch eine Laienbewegung gewesen. Und obwohl durch “Summorum Pontificum” und durch die hoffentlich bald vollendete Aussöhnung der Piusbruderschaft mit dem Heiligen Stuhl die Stellung der Priester, die sich für den Ritus einsetzen, gestärkt wurde und wird, so ändert dies nichts daran, daß es die Laien sein werden, die den Erfolg aller Bemühungen entscheidend mit bewirken. Denn die Laien von heute sind andere als die vor vierzig Jahren, die aus genauer Kenntnis des alten Ritus den Verlust bitter empfanden und sich gegen ihn wehrten. Die jungen Leute, die sich heute dem alten Ritus zuwenden, haben ihn oft als Kinder nicht kennengelernt; sie sind eben nicht, wie Papst Franziskus es fälschlich vermutete, Nostalgiker, die einer untergegangenen Zeit nachtrauern - sie erleben den alten Ritus vielmehr als etwas Neues; eine bis dahin unbekannte Welt tut sich vor ihnen auf, die zu erforschen von unerschöpflichen Reiz zu sein verspricht. Aber diejenigen, die den überlieferten Ritus heute in seiner stilistischen Richtigkeit und Orthodoxie entdecken, sind natürlich eine Elite - nicht im sozialen Sinne, sondern in Form einer höheren mystischen Empfänglichkeit, einer ästhetischen Empfindlichkeit für Wahrheit und Lüge. Schon der Autor des “Herbstes des Mittelalters”, John Huizenga hat festgestellt, daß zwischen Stilgefühl und Orthodoxie ein sehr enger innerer Zusammenhang besteht.
Die größere Zahl der Gläubigen hat inzwischen nie etwas anderes als die reformierte Messe in ihren unzähligen Erscheinungsformen gekannt. Sie hat jede Ahnung für den spirituellen Reichtum der Kirche verloren und ist vielfach auch gar nicht mehr imstande, der alten Messe zu folgen, und das ist diesen Menschen auch gar nicht vorzuwerfen, denn die überlieferte Messe erfordert eine lebenslange Erziehung, und die nachkonziliäre Epoche zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß sie die Unterweisung in der Religion in vielen Ländern weitgehend aufgegeben hat - die katholische Religion mit ihrer hohen Zahl von Gläubigen ist in Wahrheit längst die unbekannteste Religion der Welt geworden, und zwar gerade unter ihren Anhängern. Auch wenn es dennoch viele Katholiken gibt, die sich durch die Oberflächlichkeit des neuen Ritus, wie er vielfach zelebriert wird, durch die häßliche Musik, den puritanischen Kitsch, die Trivialisierung der Lehre, die Profanität der neuen Kirchenbauten abgestoßen und verletzt fühlen, so ist die Kluft, die in vierzig Jahren zwischen dem überlieferten und dem neuen Ordo entstanden ist, doch sehr tief, oft unüberbrückbar: Es gehört zu den Konstanten der Kirchengeschichte, gerade auch im Leben der Heiligen und ihrer Ordensgründungen, daß die Oberen jede neue Regung, jede ungewöhnliche geistliche Anstrengung, ja, jede echte Reform - und echte Reform besteht stets im Anziehen der Zügel, in der Rückkehr zur strengeren Ordnung - mit äußerstem Mißtrauen verfolgen und zu unterdrücken versuchen. Dies ist die Feuerprobe, die alle Reformer, die diesen Namen verdienen, zu bestehen hatten. Der alte Ritus wird zurückgewonnen in hunderten kleinen Kapellen, in improvisierten Umständen, über die ganze Welt verstreut, zelebriert von jungen Priestern mit Gemeinden, die viele kleine Kinder haben, oder er wird nicht zurückgewonnen.
Seine Rückeroberung ist jetzt eine Sache der jungen Generation, und das ist mit großen Vorteilen verbunden. Wer die Abschaffung und das unerlaubte Verbot des Ritus in den späten sechziger Jahren erlebt hat, war damals in der liturgischen Praxis der fünfziger Jahre und der Jahrzehnte davor verwurzelt. Es mag überraschend klingen: diese Praxis war nicht die beste, in vielen Ländern jedenfalls. Die Meßrevolution warf ihre Schatten voraus. Man traute der mystagogischen Kraft des Ritus vielfach nicht mehr. Seine Architektur wurde von vielen Liedern überdeckt, es gab stille Messen, bei denen ein Vorbeter unentwegt in der Landessprache Gebete vortrug, die keineswegs immer Übersetzungen der lateinischen Gebete waren, an vielen Orten spielte der gregorianische Choral eine untergeordnete Rolle. Wer heute zwanzig oder dreißig ist, hat keine Erfahrung mehr in dieser Hinsicht. Er kann den Ritus in einer neuen Reinheit erleben, die von den Verkrustungen der jüngeren Vergangenheit befreit ist.
Der große Schaden, der durch die Revolution angerichtet worden ist, besteht vor allem auch in dem Verlust der Selbstverständlichkeit, mit der alle Katholiken, analphabetische Ziegenhirten, Dienstmädchen und Arbeiter, Descartes und Pascal an der Liturgie teilnahmen. Der Ritus gehörte bis dahin zu den Reichtümern der Armen, die durch ihn in eine Welt eintraten, die ihnen sonst versperrt war - sie erlebten hier ein Jenseits im Diesseits, wozu sonst nur Künstler und Mystiker imstande sind. Daß dies verloren ist, kann auch in Generationen nicht wieder gutgemacht werden, und in diesem auf weitere Sicht unwiederbringlichen Verlust gründet auch die Verwerflichkeit der Meßreform, durchaus im moralischen Sinn: die Überzeugung, auch eine zukünftige Generation berauben zu dürfen, spricht von Selbstüberschätzung und Verblendung. Aber durch “Summorum pontificum” ist es jetzt wenigstens möglich, für einzelne und für kleine Kreise, allmählich wieder eine Art Selbstverständlichkeit zurückzugewinnen, auch Kinder in den Kult hereinwachsen zu lassen, die eine neue, höhere Stufe der Selbstverständlichkeit erreichen können.
Es wird klar, daß die Bewegung für den alten Ritus, weit entfernt davon, ein Zeugnis ästhetisierender Selbstgenügsamkeit zu sein, in Wahrheit einen apostolischen Charakter hat. Man hat beobachtet, daß der überlieferte Ritus eine besonders starke Wirkung auf Konvertiten ausübt, ja, daß er bereits nicht wenige Konversionen ausgelöst hat. Seine tiefe Verwurzelung in der Geschichte und seine Ausrichtung auf das Weltende schaffen eine Antizeit zur Gegenwart, die mit ihrer ausschließlich auf den Erwerbssinn zielenden Tendenz viele Menschen unbefriedigt läßt, zumal der Fortschrittsoptimismus, der die ökonomische Mentalität lange begleitet hat, inzwischen der Zukunftsangst und jedenfalls einem grundsätzlichen Pessimismus gewichen ist - das ist wahrlich nicht zu beklagen, es ist vielmehr ein allgemeines Erwachen aus einem gut zweihundert Jahre alten Wahn; Christen wußten immer, daß die Welt durch die Erbsünde gefallen ist und zu einem Optimismus, was den Verlauf der Geschichte angeht, keinerlei Anlaß bietet - die katholische Religion ist mit den Worten T. S. Eliots eine “Philosophie der Desillusionierung”, die aber nicht niederdrückt, sondern nur lehrt, die Hoffnung nicht auf etwas zu richten, was die Welt nicht geben kann. Da öffnet die große überlieferte Liturgie Roms und natürlich auch die Göttliche Liturgie des Heiligen Johannes Chrysosthomos der griechischen Orthodoxie einen Spalt, der den Blick aus der Zeit in die Ewigkeit lenkt.
Noch ist die Bewegung für die Wiedergewinnung des überlieferten Ritus eine Avantgarde, die junge Leute anzieht, die den Druck der Gegenwartsgesellschaft als erstickend erleben. Aber eine Avantgarde kann sie nur sein, wenn sie die große Truppe der vielen nicht vergißt, die irgendwann auch wieder zur ganzen Fülle der katholischen Religion zurückfinden müssen, wenn die Generationen, die im Gefolge des II. Vatikanischen Konzils das Heil der Kirche in ihrer Säkularisierung suchten, ins Grab gesunken sind.
Rom, am III. Adventssonntag “Gaudete” 2016